„Wir nutzen fundamentale Quanteneffekte, um Algorithmen zu konstruieren“

Mit Begeisterung für abstrakte Theorie zu neuen Anwendungen

Von der angewandten Chemie zur Entwicklung von Quantenalgorithmen am Lehrstuhl für Theoretische Physik – Zwar interessierte sich Nina Stockinger schon immer für Naturwissenschaften, was sie am meisten begeistert, zeigte sich ihr aber erst nach und nach. Als ihr klar wurde, dass sie tiefer eintauchen will in die Theorie und schließlich das Quantencomputing, verfolgte sie ihren Weg umso konsequenter.

Von Maria Poxleitner

„Gruppentheorie fand ich am coolsten.“ Nina Stockinger sitzt an ihrem Schreibtisch im Gemeinschaftsbüro im Physikgebäude der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) in Erlangen. Umrahmt von Zimmerpflanzen, einer Schatulle mit verschiedenen Beutelteesorten und einer kleinen Schale mit Schokokugeln hat sich die Doktorandin ihren Arbeitsplatz mit Abstand am gemütlichsten eingerichtet. Als kleine Motivation am Nachmittag sei ein bisschen Schokolade ganz hilfreich, meint Nina schmunzelnd. Würde sie noch einmal studieren, würde sie sich wahrscheinlich für ein Physikstudium entscheiden, überlegt sie und schiebt sich nachdenklich eine braune Strähne hinter das Ohr. „Aber damals wusste ich noch nicht, dass mir das so viel Spaß macht.“ Dinge mathematisch zu beschreiben und auf einer abstrakten Ebene zu betrachten, fände sie „richtig schön!“. Aber auch, dass man eine abstrakte Theorie wie die Gruppentheorie in vielerlei Hinsicht anwenden kann, zum Beispiel um Moleküle zu beschreiben, findet die 26-jährige Chemikerin spannend.

Begonnen mit einem Bachelor in Angewandter Chemie, promoviert Nina heute am FAU-Lehrstuhl für Quantentheorie: „In meiner Gruppe arbeiten wir unter anderem an Algorithmen für Quantencomputer, mit denen wir die elektronische Struktur von Molekülen berechnen wollen.“ Die elektronische Struktur, die die Verteilung der Elektronen der Atome des Moleküls und damit dessen Energie beschreibt, sei zum Beispiel bei der Entwicklung von Materialien relevant, oder um die Reaktivität bei einer chemischen Reaktion vorherzusagen, erklärt die Chemikerin. Dabei skaliere der Rechenaufwand mit der Größe des Moleküls exponentiell: „Auch bei einem sehr kleinen System ist der Rechenaufwand bereits so hoch, dass ein klassischer Computer oft nicht mehr in der Lage ist, die elektronische Struktur hinreichend genau zu bestimmen.“ Ein Quantencomputer hingegen schon. Für sogenannte fehlerkorrigierte Quantencomputer gäbe es bereits Algorithmen, mit denen man die elektronische Struktur bestimmen könne – in der Theorie, denn: „Es braucht noch Zeit bis fehlerkorrigierte Hardware verfügbar ist. Deswegen versuchen wir, Algorithmen für Quantencomputer zu entwickeln, die aktuell oder in naher Zukunft verfügbar sind.“

Dass sie mittlerweile in der Theoretischen Physik promoviert, heißt nicht, dass Nina – die schon als Kind Spaß hatte an diversen Experimentierkästen, am Kristallezüchten und wissenschaftlichen Büchern – keinen Gefallen am Experimentieren im Labor gefunden hätte. Im vierten Semester ihres Bachelors für Angewandte Chemie, den sie an der TH Nürnberg absolvierte, stand ein Praxissemester an. Nina ging dafür nach Würzburg ans Fraunhofer-Institut für Silicatforschung. Es habe ihr sehr gefallen, an einem richtigen Forschungsprojekt zu arbeiten und sich Sachen zu überlegen, die sie dann direkt im Labor habe ausprobieren können, erzählt die Doktorandin. „Das Praxissemester war irgendwie super nice. Ich würde sagen, das war das Beste am Bachelorstudium.“ 

Portrait of Nina Stockinger

Nina Stockinger, 26


Position

Doktorandin


Institut

FAU – Lehrstuhl für Quantentheorie
THEQUCO


Studium

Chemie


Nina forscht an Algorithmen für sogenannte „Noisy Intermediate-Scale“-Quantencomputer, speziell an Algorithmen zur Berechnung der elektronischen Struktur von Molekülen. Diese spielt zum Beispiel in der chemischen Forschung oder in der Materialentwicklung eine wichtige Rolle.

Eine Wissenschaftlerin sitzt an einem Schreibtisch und schaut konzentiert auf einen Computerbildschirm. Im Hintergrund sieht man ein mit Formeln beschriebenes Whiteboard.
Nina in ihrem Büro am Lehrstuhl für Quantentheorie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen.

Der ausschlaggebende Tropfen

Da der Gruppenleiter, unter dem sie am Fraunhofer-Institut gearbeitet hatte, für eine Professur an die FAU nach Erlangen berufen wurde, konnte Nina zuerst als Hiwi und schließlich im Rahmen einer externen Bachelorarbeit an dem Projekt weiterarbeiten – und nicht zuletzt zu einem Patent beitragen. Die Gruppe habe an Nanopartikeln aus Siliziumdioxid – „also daraus, woraus auch Sand besteht“ – geforscht, die zu einem größeren Partikel, einem sogenannten Suprapartikel, zusammengelagert werden, erklärt die junge Chemikerin. „Man kann sich das vorstellen wie eine Himbeere.“ Die spezielle Porenstruktur könne verschiedene Stoffe aufnehmen, was man ausnutze, um durch das Hinzufügen bestimmter Bausteine besondere Funktionalitäten zu erzeugen. Im konkreten Fall ihrer Bachelorarbeit ging es darum, einen Wasserstoffsensor zu entwickeln, mit dem das unsichtbare und geruchslose, aber hochexplosive Gas bemerkt werden kann. „Unser Ziel war es, einen optischen Sensor zu entwickeln, den man zum Beispiel auf Rohre oder Handschuhe auftragen kann und dann direkt durch eine Farbänderung sieht, ob irgendwo Wasserstoff austritt.“ Ninas Gruppe tüftelte längere Zeit an den Bausteinen, die es für den Wasserstoffsensor braucht. Neben dem passenden Farbstoff und geeigneten Katalysatorpartikeln muss die „Himbeere“ auch Wasser aufnehmen, damit der Sensor funktioniert. Auf letzteres sei sie durch „einfach mal ausprobieren“ gestoßen, erzählt die Chemikerin und erinnert sich lachend: „Ich war schon ein bisschen verzweifelt, weil es nicht geklappt hat. Und dann habe ich einfach mal einen Tropfen Wasser neben die Partikel getan und durch den Wasserdampf, der in die Porenstruktur eingezogen ist, kam es dann endlich zur gewünschten Reaktion.“ Dass Wasser als Transportmedium innerhalb der Porenstruktur als zentraler Bestandteil für die Funktionalität des Sensors benötigt wird, das herauszufinden, war Ninas Verdienst als Hiwi. „In meiner Bachelorarbeit habe ich dann die einzelnen Bestandteile des Sensors nochmal optimiert und daraus ist dann auch das Patent entstanden.“

Generell habe ihr die Laborarbeit im Studium Spaß gemacht, auch wenn sie auf manchen Kurs – „In organischer Chemie hantiert man teilweise mit echt giftigen Sachen. Und im Alltag bin ich auch eher tollpatschig…“ – hätte verzichten können, meint Nina lachend. Die Theorie dahinter kam für ihren Geschmack hingegen oft zu kurz: „Es ging halt nie so richtig tief rein.“ Theoretische Chemie und Quantenmechanik im Speziellen hätten sie im Bachelor gar nicht gehabt. Das habe sie etwas frustriert. „Dann hieß es irgendwann immer, jetzt wird’s zu theoretisch, das machen wir jetzt nicht mehr. Aber genau da fand ich es eigentlich gerade interessant! Weil es das Fundamentalste ist, alles in der Chemie baut ja quasi auf der Quantenmechanik auf.“ Sie habe sich dann einfach selbst Bücher ausgeliehen und auch Videos auf YouTube genutzt, um mehr über Quantenmechanik zu lernen.

Zum Ende des Bachelors war für Nina klar, dass sie im Master vor allem Theoretische Chemie machen will. Die beste Möglichkeit sich zu spezialisieren bot in ihren Augen der Chemiemaster der Technischen Universität München (TUM), der es erlaubte, deutliche Schwerpunkte auf der theoretischen und physikalischen Chemie zu setzen. „Deshalb wollte ich unbedingt dahin“, erzählt die Doktorandin. Beworben habe sie sich aber trotzdem an mehreren Unis: „Mir haben schon viele Fächer gefehlt. Deshalb musste ich erstmal schauen, dass ich überhaupt angenommen werde.“ Die fehlenden Fächer konnte sie an der TUM durch ein Motivationsschreiben und ein Zulassungsgespräch ausgleichen. Letzteres sei „eigentlich voll entspannt“ gewesen, findet Nina: „Das wichtigste für die Prüfer war zu sehen, dass man motiviert ist und das durchziehen möchte.“

„Ich hatte richtig Bock drauf und wollte das unbedingt“

Die junge Chemikerin wusste sehr genau, worauf sie sich einlässt und die Motivation hätte höher nicht sein können. Im ersten Mastersemester habe sie schon richtig viel machen müssen, erinnert sich Nina. Vor allem bei den mathematischen Grundlagen musste sie aufholen und Quantenmechanik habe sie als Auflage gehabt. „Aber es war gar nicht so, dass ich irgendwie lernen musste, sondern ich hatte richtig Bock drauf und wollte das unbedingt.“ Ab dem zweiten Semester sei sie dann „voll drin“ gewesen.

Quantencomputing spielte für Nina zu diesem Zeitpunkt noch keine Rolle. Ihre Begeisterung hierfür entdeckte sie erst im dritten Mastersemester. Da ihr insbesondere die mathematischen Fächer Spaß machten, interessierte sie sich für die Quantencomputing-Vorlesung, die vom Lehrstuhl für Informatik angeboten wurde. Dass in diesem Feld fundamentale Quantenphysik und Anwendungspotenzial aufeinandertreffen, begeistert die junge Theoretikerin: „Ich finde es super spannend, dass man fundamentale Quanteneffekte wie Superposition und Verschränkung nutzt, um Algorithmen zu konstruieren.“ Algorithmen, die konkrete Anwendungen, wie zum Beispiel in der Chemie, versprächen. Auf die erste Vorlesung folgte dann „Advanced Quantum Computing“ und eine Vorlesung zu Tensornetzwerken, einer Methode, mit der sich unter anderem komplexe Quantensysteme effizient beschreiben lassen. „Mir haben beide Vorlesungen mega viel Spaß gemacht und da wusste ich dann schon, dass ich auf jeden Fall in diese Richtung gehen will.“ Was ihr an den Quantencomputing-Kursen außerdem gefiel: Anders als in einigen Bereichen der Theoretischen Chemie, müsse man mehr selbst programmieren und nutze seltener bereits existierende Programme. Auch jetzt in ihrem Doktorarbeitsalltag schreibe sie vieles selbst: „Das macht viel mehr Spaß. Man kann viel kreativer sein und Fehler selbst beheben.“

In der Gruppe, in der Nina heute promoviert, schrieb sie auch ihre Masterarbeit. „Ich wollte auf jeden Fall in den Algorithmus-Bereich gehen,“ erzählt sie. Der Fokus auf Quantenalgorithmen für den chemischen Bereich habe außerdem gut zu ihrem Chemiebackground gepasst. Dass sie, immatrikuliert an der TU München, ihre Masterarbeit so ohne Weiteres extern an der FAU schreiben konnte, sei ohne das Munich Quantum Valley nicht so einfach möglich gewesen, glaubt Nina. Die Professoren hätten sich darüber bereits sehr gut gekannt.

In der theoretischen Forschung zu Quantenalgorithmen geht die Doktorandin auf. Sie habe den Wechsel in die Theorie nie bereut. „Das war auf jeden Fall die richtige Entscheidung!“ Ihre experimentelle Seite hat sie aber nicht ganz abgelegt. Ab und zu mikroskopiere sie zum Beispiel – einfach so, aus Spaß, gibt Nina lachend zu. Das habe ihr im Bachelor immer viel Spaß gemacht und irgendwann habe sie sich dann ein eigenes Mikroskop gekauft, um damit mal Zwiebelhaut, mal Teichwasser und andere Dinge, die ihr vor die Nase kommen, unter die Lupe zu nehmen. Mittlerweile dominiert ihre Freizeit aber das Padel-Tennis, eine noch junge Sportart, die, wie Nina erklärt, ein bisschen sei wie Tennis mit Wänden. Letztes Jahr hätten sie und ihr Freund das zum ersten Mal ausprobiert. „Und mittlerweile sind wir echt richtig süchtig danach!“, meint Nina lachend. Alle zwei Tage, im Idealfall jeden Tag, würden sie zum Padel gehen und meistens für zwei, manchmal auch für drei Stunden spielen. „Und am Wochenende, wenn wir da sind, spielen wir eigentlich auch immer.“ Vor allem die langen Ballwechsel, die aufgrund der Wände, die in das Spiel mit eingebunden werden, möglich sind, gefielen ihr: „Manchmal kommt ein schwerer Ball und man denkt, das war’s jetzt, und dann geht es doch nochmal weiter. Das ist immer richtig cool.“ Man sei beim Spielen total fokussiert. Die perfekte Möglichkeit also, um den Kopf frei zu bekommen und sich am nächsten Morgen wieder all den Formeln, Programmiercodes und Computersimulationen zu widmen.


Veröffentlicht am 31. Juli 2025; Interview am 29. April 2025.